Was ist das eigentlich systemische Beratung?

Ob in meiner Funktion als Dozent, Business Coach oder Therapeut, häufig werde ich gefragt, was ist eigentlich systemische Beratung? Daher ist es mein Anliegen, den Begriff in diesem Artikel näher zu erläutern.

 

Die Fachliteratur beschreibt die systemische Beratung / Therapie als eine bestimmte Art des Denkens und Handelns. 

 

 

Worauf stützt sich diese Argumentation?

In der Anfangszeit der systemischen Therapie wurde dieser Begriff gleichgesetzt mit der Familientherapie. Heute wird eher von systemischer Therapie oder auch Beratung gesprochen, um zum einem zu verdeutlichen, dass es nicht zwangsläufig die Familie sein muss, die im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, zum anderen, dass die Arbeitsfelder neben der therapeutischen Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen auch in der Supervision, dem (Business) Coaching und in der Organisationsberatung liegen.

 

In den ersten 50 Jahren des 19. Jahrhunderts war Psychotherapie eine Angelegenheit zwischen 2 Personen: dem / der Therapeut*in und seinem*r Klient*in.

 

Als man begann, „Probleme“ mehr und mehr als Bestandteile sozialer Systemstrukturen wahrzunehmen und nicht als „Eigenschaften“ einzelner Personen, wurden die Veränderungen, die sich aus dem Perspektivenwandel ergaben, zum Teil als so dramatisch erlebt, dass sie als Paradigmenwechsel bezeichnet wurden. Psychische Störungen konnten nicht mehr als individuelle Prozesse gesehen werden, ja der Begriff Krankheit selbst war - und ist - nicht mehr angemessen für Phänomene, die offensichtlich eng mit sozialen Prozessen verbunden sind. 

 

Therapeuten wie Salvador Minuchin (strukturelle Familientherapie), Jay Haley (Strategische Familientherapie), Virgina Satir (wachstumsorientierter Ansatz), Steve de Shazer und Insoo Kim Berg (Lösungsorientierte Kurzzeittherapie), Palazzoli und Boscolo (Mailänder Modell), Michael White (Narrativer Ansatz) und Helm Stierlin (Heidelberger Modell) trugen maßgeblich zu der Entwicklung der systemischen Beratung / Therapie bei. 

 

 

Was ist eigentlich ein System?

Damit wir von einem System sprechen können, gilt es, einige Punkte zu berücksichtigen.

 

1. Als „System“ bezeichnen wir eine beliebige Gruppe von Elementen, die durch Beziehungen miteinander verbunden und            durch eine Grenze von ihrer Umwelt abgrenzbar sind. Solche Systeme finden wir quasi überall. Einige Beispiele:

·         Natur: Bienen in einem Bienenstock

·         Biologie: Zellen in einem Nervensystem

·         Technik: Verschaltungen in einem Computer

·         Soziale Interaktion: Kommunikationen zwischen Eltern und Kindern in einer Familie, beziehungsweise zwischen Arbeitskollegen am Arbeitsplatz

 

2. Damit ein System entstehen kann, bedarf es eines Beobachters, der durch seine Betrachtungsweise entscheidet, welche            Elemente, welche Beziehungen und welche Grenzen er diesem System zuordnen will. Aus diesem Grund ist der Begriff              „systemisch“ ein erkenntnistheoretischer Begriff (was kann ich erkennen?), kein ontologischer (was ist dort wirklich?).

 

3. Als „Systemtheorie“ werden Versuche bezeichnet, die Fülle der meist zahlreichen, gleichzeitig oder nacheinander ablaufenden         Prozesse innerhalb und zwischen Systemen adäquat zu beschreiben. Begriffe der Systemtheorie sind notwendigerweise meist         sehr abstrakt und damit oft auch mathematisch darstellbar, weil sie auf Systeme in unterschiedlichsten Wirklichkeiten passen             sollen.

 

4. Alle Arbeitsformen, die einen solchen systemischen Blick bewusst nutzen, können wir als systemische Praxis oder systemisches        Arbeiten bezeichnen - egal ob in der Biologie, in der Technik oder in psychosozialen Berufen. 

 

5. Systemische Therapie oder auch systemische Psychotherapie versteht sich als ein besonderer Kontext der systemischen                  Beratung, nämlich als ein Heilverfahren im Gesundheitswesen - also dort, wo implizit oder explizit Menschen als gesundheitlich          gestört und behandlungsbedürftig angesehen werden. Sie gehört heute neben der psychoanalytischen Psychotherapie, der                kognitiv-behavioralen Therapie und den humanistischen Therapien zu den vier großen Grundrichtungen der Psychotherapie.

 

 

 

Merkmale der systemischen Beratung beziehungsweise Therapie

Die systemische Beratung oder Therapie bezeichnet die Arbeit mit Einzelpersonen oder Gruppen in Bezug auf deren Sozialsystem im jeweiligen Kontext (Familie, Partnerschaft, Gesundheit oder Beruf).

Das Hauptinteresse der systemischen Beratung liegt auf den Beziehungsprozessen der Personen, die an der Entstehung und Aufrechterhaltung eines Problems beteiligt und daher auch für Veränderungs- und Lösungsprozesse von Bedeutung sind.

Dazu gehören nicht unbedingt nur Familienmitglieder, sondern auch andere Personen oder Institutionen können von Bedeutung sein.

 

In der systemischen Therapie wird ein menschliches Problem oder ein Krankheitssymptom nicht als Störung angesehen, die eine Person hat, sondern sie wird als Qualität eines sozialen Feldes betrachtet.

Systemische Therapie interessiert sich auch wenig für die klassische Diagnostik. Aus Sicht des systemischen Therapeuten ist die Diagnostik eher hinderlich und einschränkend für die systemische Arbeit. Es wird an dieser Stelle eher gefragt, für „wen“ ist die Diagnose hilfreich? 

 

In anderen Therapierichtungen würden Fragen gestellt wie:

  • Wer hat das Problem? 
  • Seit wann ist das Problem da? 
  • Warum ist es da? 

In der systemischen Therapie werden vielmehr Fragen gestellt wie:  

  • Wer gehört dazu, wenn etwas zu einem Problem wird?  
  • Wer beschreibt das Problem, wie? 
  • In welchem sozialen System oder Kontext ist ein Problem eventuell sogar sinnvoll? 

 

Ziele der systemischen Beratung / Therapie

Ein systemischer Berater / Therapeut ist in verschiedenen Themenbereichen Wegbegleiter einer Person oder einer Gruppe im Rahmen eines formulierten Entwicklungsauftrags (privat - gesundheitlich - schulisch - beruflich etc.).

Der systemische Berater / Therapeut dient auch als Katalysator und Förderer. So werden neue Orientierungsprozesse, Persönlichkeits- und Verhaltensveränderungen angeregt, gezielt gefördert und im Rahmen des Entwicklungsprozesses begleitet.

Diese dienen zur Stärkung der Autonomie und des Selbstwertes jeder einzelne Person beziehungsweise jedes (Familien-) Systemmitgliedes.

 

Dadurch festigt sich der Zusammenhalt der jeweiligen Systemmitglieder untereinander, was zu einer Verbesserung der Kommunikation, beziehungsweise einem Austausch innerhalb des Systems führt. Schädigende Beziehungsmuster werden dadurch verändert.

 

Ein systemischer Berater / Therapeut unterstützt den Klienten dabei, einen Klärungs-, Orientierungs- und Veränderungsprozess optimal zu gestalten und sucht mit ihm Lösungen für Generations-, Ablösungs-, Entscheidungs-, Trennungs- und andere Probleme und Konflikte.

Weiterhin unterstützt er bei der Heilung von psychischen und psychosomatischen Problemen und Störungen.

 

Der Berater / Therapeut unterstützt den Klienten darin, die eigene Wahrnehmung zu schulen, Ressourcen zu erkennen, um diese situativ besser nutzen zu können, die Verhaltensfähigkeit und Persönlichkeit zu entwickeln und diese in seinen allgemeinen Lebensalltag zu integrieren.

 

Systemische Beratung kann unter anderem eine professionelle Reflexionshilfe in der beruflichen Praxis sein, mit dem Ziel, die Lösungsorientierung zu fördern sowie Handlungsalternativen zu entwickeln. 

 

 

Die Grundannahme in der systemischen Beratung / Therapie

Grundlage der professionellen systemischen Begleitung ist eine wertschätzende Grundhaltung des Beraters / Therapeuten zum*r Klient*in und das Interesse, neue Möglichkeiten sowie die Wege dazu im Dialog aufzuzeigen.

Erkenntnisleitend ist für effektive systemische Arbeit eine konstruktivistische Grundlage, auf der die Beteiligten aufbauen.

Jede*r konstruiert seine / ihre Wirklichkeit selbst, um so neue Möglichkeiten zu entwickeln.

 

Systemische Beratung / Therapie geht von folgenden Grundannahmen aus: 

  • Jedes Verhalten ist (psycho-)logisch und im passenden Kontext sinnhaft.
  • Jedes Verhalten stellt die beste der Person aktuell zur Verfügung stehende Lösung dar. Allerdings heißt das nicht, dass es nicht noch eine bessere gäbe.   
  • Jedes Symptom hat eine Funktion.
  • Jeder Mensch verfügt über die Ressourcen, seine Probleme selbst zu lösen. 
  • Jeder Mensch konstruiert sich seine Wirklichkeit selbst. 
  • Es gibt keinen „Widerstand“, sondern nur einen Irrweg des Beraters / Therapeuten. 

 

Systemische Beratung ist für mich…

In meiner Arbeit orientiere ich mich an einem Zitat von Heinz von Foerster: „Handle stets so, dass du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst!“

 

Ich hoffe, es ist mir gelungen den Begriff „systemische Beratung“ so darzustellen, dass er deutlicher geworden ist. 

 

Bei Fragen, einfach fragen. 😊 

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